2. November 2022
4 min

Legasthenie Egalistesnie

Johanna studiert im dritten Semester Wirtschaftsingenieurwesen an der HTWK Leipzig. Und Johanna ist Legasthenikerin. Wie sie diese anspruchsvolle Kombination meistert, was das für ihren Alltag bedeutet und warum der Studiengang für sie der beste der Welt ist, darüber haben wir uns mit ihr unterhalten.

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interview
Bild: © Carolina Gußmann

Johanna, du bist Legasthenikerin. Erzähl doch mal …

Ja, genau. Die Legasthenie wurde bei mir im Grundschulalter von einem Kinderpsychologen diagnostiziert. Da meine Eltern Sorgen hatten, dass ich auf einem klassischen Gymnasium damit nicht gut aufgehoben bin, habe ich mein Abi auf einer Gesamtschule gemacht – hier sind die Lehrer*innen eher geübt, mit unterschiedlichen Leistungsständen und vor allem -geschwindigkeiten umzugehen.

Was bedeutet es für dich, mit Legasthenie zu leben?

Wenn mir Sachen schwerfallen, dann kann ich bis heute oft nicht gut einschätzen, was davon durch die Legasthenie bedingt ist und wo das einfach ich bin –meine Stärken und meine Schwächen.

„Wichtig ist aber: Die Legasthenie schließt einen von nichts aus. Es geht alles. Manchmal braucht es halt länger.“

Jetzt studierst du – und zwar erfolgreich. Wie ist das?

Viele denken bei Legasthenikern immer nur an die vielen Rechtschreibfehler. Das ist auch meist die erste Frage von Kommilitoninnen: ob sie denn meine Fehler korrigieren sollen, wenn sie ein Skript von mir lesen. Ich sage dann immer, klar, kannst du gern machen, aber ich schätze darauf hast du schon morgen keine Lust mehr … Das größere Problem im Studium ist definitiv das Lesen: Ich kann zum Beispiel keine Texte querlesen. Das war schon in der Schule so: Wenn andere einen Text durch hatten, dann war ich vielleicht bei der Hälfte. Und im Studium liest man unheimlich viel, ich muss dafür einfach immer deutlich mehr Zeit einplanen als andere. Das ist krass.

Gibt es denn seitens der Uni Unterstützung?

Anlaufstellen gibt es nur wenige, man muss schon sehr gezielt suchen. In der Gesamtschule damals gab es noch Lehrer, die sich auf das Thema verstanden, in der Hochschule gibt es, soweit ich weiß, nichts dergleichen. Aber es gibt den sogenannten Nachteilsausgleich: Ich bekomme bei Klausuren eine 20 Prozent längere Schreibzeit. Tatsächlich sind manche dann darauf neidisch und sagen, das hätten sie auch gern … Ich kann ihnen versichern: hätten sie nicht! Es ist schon super anstrengend und ohne strikten Lernplan geht bei mir nichts.

Was bedeutet das?

Man muss ziemlich gut organisiert sein und wissen, wie man sich Sachen effizient erarbeitet. Ich muss definitiv effizienter arbeiten als andere, allein schon deswegen, weil das Lesen länger dauert. Ich bin immer dankbar, wenn die Profs ein kurzes, prägnantes Skript haben und nicht so schwafelig sind.

„In der Vorlesung ist immer das Ziel, dass ich Dinge beim ersten Mal verstehe. Alles, was ich nachlesen muss, kostet Zeit.“

Ich habe mir für die unterschiedlichen Themenbereiche verschiedene Techniken zurechtgelegt und schaue immer, was bei welchem Thema am besten funktioniert. Die Wochen vor den Klausuren sind komplett durchgetaktet und ich muss mich auch daran halten, sonst schaffe ich es nicht. Es braucht Disziplin und die volle Aufmerksamkeit – wenn ich noch nebenbei arbeiten müsste, dann würde es nicht gehen. Ich habe das große Glück, dass ich von zu Hause unterstützt werde. Und dass mich mein Studium wirklich absolut begeistert und jede Mühe wert ist!

Du studierst Wirtschaftsingenieurwesen Energietechnik. Was macht dieses Studium aus?

Es ist unglaublich vielfältig. Wer es abwechslungsreich mag und sich gern mit Unternehmenspolitik, Wirtschaft und Technik beschäftigt, sollte sich den Studiengang mal anschauen. Welche Richtung man dann einschlägt, ist dann natürlich wieder komplett individuell – bei uns in Leipzig gibt es neben der Energietechnik noch die Bereiche Maschinenbau, Bau und Elektrotechnik.

Was sind klassische Inhalte?

Im letzten Semester waren es noch viele Grundlagen: Physik, Chemie, Mathe, dann auch schon mal Thermodynamik – sehr cooles Fach! Und bei der Wirtschaftskomponente dann Dinge wie Buchführung, Unternehmensführung, Personalmanagement, Controlling.

Und was wird man dann? Hast du einen Masterplan?

Mein Masterplan ist, erstmal den Master zu machen. Ich sehe mich dann in einem mittelständischen Unternehmen, das sich mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, Energiespeicherung von Wind- & Wärme-Energie in Kombination mit Wasserstoff, befasst. Gezeitenkraftwerke finde ich auch wahnsinnig interessant.

Ein Job sollte safe sein mit dem Abschluss …

Ich habe da aber auch Ambitionen, ich möchte was erreichen.

Also hast du den Studiengang wegen der Karrierechancen gewählt?

Nein. Ich habe das Studium gewählt, weil es genau das ist, was einen Großteil von meinen Interessen abdeckt und ich nur, wenn das der Fall ist, überhaupt die Motivation und die Energie habe, so viel Zeit darein zu stecken.

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Was ist eigentlich Legasthenie?

Legasthenie ist eine Lese- und Rechtschreibstörung. Im Gegensatz zu einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, die sich auf das aktuelle Leistungsniveau bezieht, ist die Legasthenie massiv und lang andauernd – also nicht mit „einfach mehr lernen“ in den Griff zu bekommen. Aus diesem Grund wurde die Legasthenie als Behinderung anerkannt. Fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen - auch wenn Johanna keine Ahnung hat, wo die sich alle verstecken, denn an der Hochschule hat sie noch niemanden mit dem gleichen Problem getroffen.

Weitere Infos zum Thema gibt's hier: www.legasthenie-karriere.com